"Mag sein, dass in manchen Stadien hierzulande der proletarische Mann noch dominiert - doch seine Zeit ist abgelaufen. Oft kann er schlicht die immensen Eintrittspreise nicht mehr bezahlen. Tatsächlich hat der neue Mittelstand die Stadien erobert, mit gemischten Konsequenzen. Während früher wie beim Quartett-Spielen locker die Ergebnisse, Punktestände und Torverhältnisse der letzten 30 Jahre ausgetauscht wurden, wird es heute in manchen Ecken des Stadions schon schwierig, jemanden zu finden, der die Mannschaftsaufstellung auswendig kann. Auf der anderen Seite setzt sich mehr und mehr ein neues Verhaltensreglement durch: keine Gewalt, kein Sexismus, kein Rassismus. Das Fußballstadion wird ähnlich wie die All-inclusive-Feriensiedlung zur Heterotopie, zu einem abgeschlossenen Ort, an dem die Phantasie der Gesellschaft über sich selbst real werden soll - hier gibt es keine Konflikte, sondern angeblich nur Menschen, die friedlich feiern. [...] Vorläufig regiert der Party-Patriotismus, wobei die Nation für die Nationalmannschaft ein ebenso leerer Referent geworden ist wie die Stadt für den Verein. Obwohl selbst Günter Netzer sich von der Idee verabschiedet hat, dass die Mannschaften noch irgendwelche nationalen Eigenheiten haben (nordische Härte, südländischer Larifari etc.), erlebt man die Wiedererstehung der Nation als Klischee. Die Niederländer malen ganze Blocks in Oranje, die schwedischen Fans tragen Wikinger-Helme, die Gesichter leuchten in den Nationalfarben.
So hat sich offenbar Tony Blairs Version des Nationalen durchgesetzt: Er definierte den Begriff United Kingdom recht erfolgreich zur Marke Cool Britannia um. Die flüchtigen Subjekte können sich hinter das National-branding scharen, um in einem ebenso flüchtigen "täglichen Plebiszit" das ganze Programm des Nationalstaates als durchaus ironisches Spektakel geboten zu bekommen: der Ausnahmezustand, die Schlacht, die Begeisterung, das Heldentum, der Sieg, das Märchen. Tatsächlich hat ausgerechnet die Kommerzialisierung des Fußballs zu einer Neubestimmung des leeren Nationalen als Klischee beigetragen, die das Nationale von jedem Zweifel befreit: Die Nation ist geil.
Selbstverständlich ist dieses Arrangement keineswegs so konfliktfrei, wie es scheint. Denn ebenso aufgeregt, wie in solchen Events die Nation positiv besetzt werden kann, ebenso hysterisch kann diese Nation bald darauf auch als bedrohte Gemeinschaft inszeniert werden. Gerade weil "wir" so offen, ironisch, vielfältig und international sind, bedürfen wir eines verstärkten Schutzes - das betonen die europäischen Innenminister jeden Tag. Und weil die Nation leer ist, mutieren die Gegner zu Zerrbildern des eigenen Ich-Ideals: Die Fundamentalisten da draußen sind verschlossen, todernst und monokulturell."
(Mark Terkessidis - Flaggen zeigen)