"Früher, in den Zeiten der Bonner Republik, hieß die Mitte im gesellschaftlichen Diskurs zumeist noch "Mittelstand". Heute, wo es nichts mehr Stehendes gibt (oder geben soll), wo sich alles zu bewegen und jeder mobil, dynamisch, flexibel zu sein hat, wird die Rede von der "Mitte" als dem funktionalen Zentrum, dem ruhenden Pol, dem normativen Ankerplatz einer sich beschleunigt verändernden Gesellschaft, von einer soziologischen Zuschreibungs- zu einer sozialen Ausgrenzungskategorie. Sie markiert eine gesellschaftliche Grenzziehung nicht (oder nicht in erster Linie) zwischen "oben" und "unten", sondern zwischen "innen" und "außen". Oder sagen wir es ruhig so normativ wie es politisch gemeint ist: zwischen "gut" und "böse", zwischen nützlichen und nutzlosen Klassen, produktiven und unproduktiven Subjekten, sozialverantwortlichen Mitbürgern und verantwortungslosen Zeitgenossen. [...]
Die Rede von der Mitte, deren Arbeit es zu würdigen und deren Status es zu sichern gelte, ist zugleich Teil einer Abwertungsrhetorik all jenen gegenüber, die - in aller Regel ohne eigenes Verschulden - den Erwerbs-, Aktivitäts- und Sozialstandards eben jener Mitte nicht mehr genügen können. Mit dem Verweis auf die Mitte, ihren gesellschaftlichen Wert und ihre soziale Schutzbedürftigkeit, werden die Dequalifizierten des spätindustriellen Kapitalismus weiter abqualifiziert."
(
Stefan Lessenich - Die nützliche Klasse)
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