Montag, 19. Mai 2008

Paul Noltes "Kulturklassen"

"Paul Nolte, gefragter Zeitdiagnostiker, scheint mit Oskar Lafontaine überein-zustimmen, wenn er die soziale Frage als Klassenfrage formuliert. Für den Historiker ist der Traum sozialer Harmonie, die durchaus problematische „Utopie des 20. Jahrhunderts“, ausgeträumt (Nolte 2006, 89). Bereits überwunden geglaubte soziale Unterschiede kehrten „in neuem Gewand zurück“. Armut und Unterschichten seien „wieder ein großes Thema geworden“, die Welt des 21. Jahrhunderts zeige sich als „eine zerrissene Welt“ (ebd., 92) Jener „Zug zur Mitte“, der den sozialstaatlich regulierten Kapitalismus nach 1949 für Jahrzehnte geprägt habe, verkehre sich in eine neue Polarisierung von Arm und Reich. Insofern sei es zutreffend, „von einer neuen Klassengesellschaft zu sprechen“.
Wenig überraschend sieht Nolte „hinter den vielen Erscheinungsformen der neuen Klassengesellschaft“ den vermeintlichen Sachzwang Globalisierung wirken: Während in den Schwellenländern neue Mittelschichten entstünden, übernähmen die Zentren manche Merkmale der alten Peripherie. Unübersehbar sei Erwerbslosigkeit in den entwickelten Kapitalismen „milieukonstituierend“ geworden und schotte „zunehmend auch kulturell gegen Aufstiegschancen und Aufstiegswillen ab“ (ebd., 98).
Damit ist Nolte beim eigentlichen Kern seiner Diagnose. Für ihn ist die neue Klassengesellschaft nicht allein ökonomisch verursacht, er hält sie vor allem für ein kulturelles Phänomen. Der Historiker nennt drei Ursachenbündel für die kulturelle Eigendynamik der Klassenbildung: erstens die „große Schnittmenge“ zwischen Migranten und Unterschichten, die in kulturelle Segregation und Abschottung münde; zweitens die „Erosion der traditionellen Familienordnung“, die in den kinderreichen Unterschichtenfamilien mit ihrem geringen kulturellen und sozialen Kapital zwangsläufig zu „Erziehungskatastrophen“ führe und drittens schließlich die Rückverwandlung der Massen- in eine Klassenkultur mit Zielgruppenfernsehen für die
Unterschichten. Nicht Klassengesellschaft an sich und wachsende soziale Unterschiede als solche sind Noltes Problem. Sie gelten ihm in einer globalisierten Welt als unausweichliches Schicksal, das zu meistern sich vor allem korporatistisch organisierte Kapitalismen wie der deutschen schwer täten. Problematisch ist für den Historiker die Verfestigung einer „Alltagskultur der Unterschichten, die nicht mehr durchweg einer Assimilation an die bürgerliche Mittelschicht folgt, sondern sich auch durch äußere Abgrenzung zu behaupten sucht (zumal bei Jüngeren: in der Manipulation des eigenen Körpers mit Tatoos, Piercings), sich damit aber zugleich auch verfestigt und einkapselt“ (ebd., 96).
Hier wird deutlich, wozu Nolte die Metapher der Klassengesellschaft eigentlich dient. „Klasse“ wird zu einem sozialen Ordnungsbegriff umfunktioniert, um von „einer Position der Mitte“ aus Verwahrlosung, Wertezerfall und Antibürgerlichkeit der Unterschichten attackieren zu können. Eine solche Ordnung der Klassengesellschaft ist natürlich „etwas anderes als die fröhliche Wiederauferstehung des Gegensatzes von Bourgeoisie und Proletariat“ (ebd.: 99). Und sie mündet auch nicht in einem neuen Klassenkampf zwischen Besitzern und Besitzlosen. Vielmehr schließt die fortgeschrittene „kulturelle Eigendynamik der Klassenbildung“ aus, dass klassenspezifischen Ungleichheiten mit Verteilungspolitik beizukommen ist. Nicht Klassen- sondern Kulturkampf bestimme die Konfliktdynamik des neuen Kapitalismus.
Es gehe um die Frage nach kulturellen und politischen Optionen [...]. In diesem Kulturkampf ist Noltes Feindbild klar. Mit seinem Klassenkonzept attackiert er sowohl altlinke „Pessimisten“, die sich strukturell in der Defensive wähnten und einer verschwörungstheoretischen Neoliberalismus-Kritik frönten, also auch romantische „Schrumpfer“, die mit ihrer „provinziellen“ Kritik an Arbeitsgesellschaft und Beschleunigung (vgl. Rosa 2006) das „Bewegungsgesetz“ des dynamischen Kapitalismus ignorierten. Denn: „Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als in einer riskanten Moderne in Bewegung zu bleiben“ (ebd., 110). Wer, wie die apathischen Unterschichten, dieses Gebot verletzt und es sich in der Hängematte des Wohlfahrtsstaates bequem machen will, dem muss „die neue Mitte“ (ebd., 144) Beine machen – und sei es repressiv, durch Solidaritäts- und Leistungsentzug. [...] Dass die Beschwörung einer strategischen Mitte zu-
gleich die politische Preisgabe der Unterschichten bedeutet, ist eine versteckte, gleichwohl unüberhörbare Botschaft in Noltes Ordnung der Klassen."
(Klaus Dörre - Klassengeellschaft, Ungleichheit, Hegemonie)

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