Samstag, 26. Januar 2008

Kapitalismus ist nicht Kapitalismus – ist nicht Kapitalismus – ist nicht Kapitalismus

Kendra Briken, Sonja Buckel, Dietmar Flucke, John Kannankulam und Jens Wissel zum »Ums Ganze«-Kongress:

1. Werttheorie kann ein zentrales Verhältnis kapitalistischer Gesellschaften erklären, aber nicht »das Ganze«

"In der Wertform, wie sie sich im Geld ausdrückt, werden die bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche nicht gelöst, sondern »prozessierbar« gemacht. Die Wertform ist eine Bewegungsformen dieser Widersprüche und kein auf Dauer gestelltes, stabiles Arrangement, was in den wiederkehrenden Krisenprozessen deutlich zum Vorschein kommt.
Ein zentraler Erkenntnisgewinn der marxistischen Diskussionen vor allem der 70er Jahre war es, herausgearbeitet zu haben, dass die gesellschaftlichen Widersprüche nicht allein durch die Wertform prozessiert werden, sondern dass daneben auch die politische sowie die Rechtsform von zentraler Relevanz sind. Gegenüber einem vielfach wiederkehrenden Missverständnis in dieser Debatte wurde zudem darauf hingewiesen, dass die politische Form wie auch die Rechtsform nicht aus der »ökonomischen Form« abgeleitet, und somit dieser nachgeordnet sind, sondern, dass die genannten sozialen Formen allesamt ihren Begründungszusammenhang in den herrschenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen haben."

2. Recht, Staat, Ökonomie stehen in einem Trennungs-Verbindungs-Verhältnis

"Die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bewegen sich somit in Wertform, politischer Form und Rechtsform, diese folgen jedoch einer je »eigenen Logik« und sind nicht aufeinander reduzierbar. Mit anderen Worten: Recht/Staat/Ökonomie sind nicht dasselbe, ihre Trennung ist vielmehr das Spezifikum des Kapitalismus. [...]
Das Erkämpfen sozialer Rechte ist so wenig eine Fürbitte an den Staat, wie der Kampf um andere Produktionsverhältnisse eine Wunschliste an die kapitalistischen Unternehmen darstellt. Die Identität von Staat und Recht zu behaupten, ist Sache der konservativen Staatsrechtslehre, nicht die einer kritischen Theorie."

3. Das Denken in Nebenwidersprüchen ist hoffnungslos überholt

"Wichtig ist uns jedoch auch, als Ergebnis der vielfältigen Kritiken und Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte festzuhalten, dass mit den sozialen Formen, oder mit einer Formanalyse, nicht alles erklärt ist, sondern dass andere Herrschaftsverhältnisse genauso gesellschaftsstrukturierend zu denken sind"

4. Unterschiedliche Kapitalismen erfordern unterschiedliche Formen des Kampfes

"Die Herausarbeitung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen bezieht sich nur auf allgemeine Strukturmerkmale kapitalistischer Gesellschaften und sagt noch relativ wenig über historisch konkrete Gesellschaftsformationen aus. Bleibt man bei der abstrakten Analyse der Form stehen, können die Differenzen, die der Kapitalismus in Raum und Zeit herausbildet, nicht gesehen werden. [...]
Das Verhältnis von Struktur und Handlung ist nicht nach einer Seite hin aufzulösen, es bleibt vielmehr ein Vermittlungsverhältnis. Das heißt zum Beispiel, dass die Akteur_innen nie nur Charaktermasken, oder Strukturfunktionär_innen sind, sondern auch mit Optionen und Strategien versehene Subjekte. Mit anderen Worten: Es ist zwar nicht alles möglich, weil die Formen und die sedimentierten Kräfteverhältnisse einen Rahmen geben, aber innerhalb des Möglichen gibt es unendliche Variationen. Strukturprinzipien strukturieren unsere Handlungen, diese wirken aber gleichzeitig auf die Strukturprinzipien zurück und verändern sie. [...]
Will man die Bedingungen für emanzipatorische Kämpfe verstehen, ist eine Analyse dieser Kräfteverhältnisse und Traditionen unumgänglich."

5. Gegen theoretischen Größenwahn

"Als Konsequenz aus den vorangegangenen Thesen folgt eine notwendige Offenheit für unterschiedliche theoretische Ansätze. Die Komplexität, mit der sich eine heutige Herrschaftsanalyse konfrontiert sieht, lässt sich nicht mit einem theoretischen Ansatz, und sei er auch noch so elaboriert, einfangen. Diskussionsbeiträge, die als einzige Prämisse das Postulat der Reinheit der Lehre zulassen, sind einem autoritärem Denken verhaftet, das jedes Nicht-Identische zwanghaft ausschließen muss. Eine Konzentration auf die ›Entlarvung‹ konträrer Positionen als nicht systemsprengend ist unproduktiv und moralistisch. Kritische Theorie hingegen kann von der Vielfalt theoretischer Paradigmen (post-operaistischer wie post-strukturalistischer Provenienz, als auch feministischer, queerer oder post-kolonialer Ansätze) profitieren und die eigene Perspektive erweitern. Die sorgfältige Diskussion und Kritik der jeweiligen Prämissen und Argumente sowie der jeweiligen Situiertheit der Positionen ist dabei eine Selbstverständlichkeit. Eine solche Theorie-Praxis wäre am ehesten in der Lage, zu einem kollektiven Projekt zur Überwindung aller Herrschaftstechnologien beizutragen und Kritik auf Dauer zu stellen."

6. Kritische Theorie ist ohne empirische Sozialforschung nicht möglich

"Theorie alleine kann keine gesellschaftlichen Realanalysen liefern. Gerade wenn kapitalistische Gesellschaften sich durch grundlegende Unterschiede in Raum und Zeit, durch vielfältige Strukturprinzipien und Kämpfe auszeichnen, so ist die Notwendigkeit einer Vielzahl von genauen empirischen Untersuchungen evident. Darüber hinaus hat die Transnationalisierung der Kräfteverhältnisse und sozialen Formen ein für alle mal einen national bornierten Analyserahmen ad acta gelegt."

7. Der Dualismus von Reform und Revolution ist Schnee von gestern

"Eine schematische Gegenüberstellung von Reformismus auf der einen Seite und Revolution auf der anderen ist nicht mehr zeitgemäß, weil sie die Erfahrungen emanzipatorischer Bewegungen außer Acht lässt. Beide großen Bewegungen der Arbeiter_innen des 19. und 20. Jahrhunderts, Sozialdemokratie und Kommunismus, sind letztlich an ihrer Staatsfixiertheit gescheitert. Zu dieser Fixiertheit zählt auch das Missverständnis, die erzielten sozialpolitischen Verbesserungen wären vom Staat gewährt worden. Tatsächlich wurden sie gesellschaftlich erkämpft. Beide Bewegungen konzentrierten ihre Aktionen auf den Staat und betrachteten ihn als Instrument zur Befreiung der außerhalb des Staates stehenden »Massen«. Die sozialdemokratische Vorstellung führte zur Diktatur der Experten, die stalinistische zum Despotismus. Der Staat ist aber kein Instrument, das man sich aneignet, er ist keine Festung, die man stürmen könnte, sondern ein soziales Verhältnis, in dem sich gesellschaftliche Machtverhältnisse verdichten (Poulantzas). In der Vorstellung des Staates als zu stürmender Festung zeigt sich ein Staatsverständnis, das den Formwandel bürgerlicher Herrschaft nicht berücksichtigt.
Wenn also die Frage beantwortet werden soll, warum die Revolution im Westen ausgeblieben ist, muss sich der Tatsache gestellt werden, dass der bürgerliche Staat keinen Winterpalast hat. Hegemonie lässt sich nicht erstürmen. Der Formwandel bürgerlicher Herrschaft impliziert eine viel subtilere Form der Macht, die sich bis in die feinsten Gesten des Subjekts hinein verlagert - »keine kleine simple Maschinerie« (Foucault). Und auch das Subjekt lässt sich nicht aufklärerisch erstürmen, indem ihm erklärt wird, dass alles was ist, keinen Wert hat, weil es auf dem Verwertungszwang beruht. Es ist selbst Teil der Konstellation und hält durch seine Handlungen den Reproduktionszusammenhang aufrecht – nicht weil es nicht wüsste, dass unsere Gesellschaft auf Ausbeutung beruht, oder weil es Angst vor Repression hätte, sondern weil die Subjekte in einer spezifischen Form normalisiert sind und die hegemoniale Weltanschauung die Situation alternativlos erscheinen lässt. Die abstrakte Aufklärung wird in dieser Situation zum linksradikalen Wort zum Sonntag. In der Position der moralischen Überlegenheit des Wissenden zeigt sich die eigene Marginalisierung, die sich gegenüber Erfahrungen immunisiert. Die Kämpfe der Frauenbewegung haben gezeigt, dass Emanzipation ein langer und beschwerlicher Prozess ist. Die Vorstellung einer Revolution, die über Nacht die Verhältnisse dreht, so dass alles gut wird, ist absurd und erinnert eher an religiöse Heilsversprechungen. Das heißt auch, dass ein langwieriger Kampf um Hegemonie zugleich die Transformation von unzähligen herrschaftsförmigen Mikropraktiken einschließen muss. Die auf diesem Weg zu erzielenden Verbesserungen liegen – ohne Zweifel – unterhalb der Schwelle der Weltrevolution, können aber die Ausgangsbedingungen der Auseinandersetzungen um eben diese erheblich verbessern."

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